Schicksalsgemeinschaft – Online-Communities im Gesundheitssektor erfolgreich managen

Mann mit Laptop im Bett schaut aus dem Fenster

Eigentlich handelt es sich bei dieser Art von Communities um eine Reinform, die es schon vor vielen anderen gab. Der Grund: Der Bedarf an Austausch bei der Diagnose einer schweren Krankheit, zum Beispiel Krebs, ist enorm. Betroffene und Angehörige sind oft überfordert, der Austausch mit Spezialisten findet nur in physisch getrennten Räumen, z.B. bei den entsprechenden Fachärzten, statt. Bei kaum einer Form der Community ist „das geteilte Interesse, eine gemeinsame Überzeugung oder die eine physische oder psychische Verfassung“, welche laut Definition für das Vorhandensein einer Community notwendig sind, so offenkundig. Es ist der schlichte Umstand, an derselben Krankheit zu leiden. Verstärkt wird dieser Effekt noch einmal, wenn es sich um eine seltene Krankheit handelt, die auch dem medizinischen Fachpersonal nicht regelmäßig begegnet.

Ein sehr eindrücklicher Case in diesem Kontext ist die Gründungsgeschichte der Patientenplattform patientslikeme.com, in diesem TED Talk beschrieben von Gründer Jamie Heywood persönlich. Ihre Erfahrungen mit dem Aufbau zweier Communities im Gesundheitsbereich teilt auch Colleen Young, eine kanadische Community Managerin. Ihr Artikel „Community Management That Works: How to Build and Sustain a Thriving Online Health Community“ ist nicht nur Blick auf die gewählte Domäne, die Gesundheitsbranche, bemerkenswert. Auch der theoretische Ansatz hebt die Arbeit von Frau Young hervor. Sie beschreibt ein Lebenszyklusmodell von Communities. Wer die Literatur in diesem Bereich genau verfolgt, wird wissen, dass dieser Zyklusphasenansatz schon hier und da aufgetaucht ist, auch im von mir sehr geschätzten Buch „Building Successful Online Communities“ von Robert Kraut und Paul Resnick. Allerdings schafft es Frau Young, diese Lebenszyklusphasen mit konkreten Erfahrungen, Herausforderungen und Maßnahmen zu illustrieren, die sie als Community Managerin gemacht hat und bedenken musste.

Das Lebenszyklusmodell, auf das sich Frau Young bezieht, umfasst folgende vier Phasen:

1. Gründung (Inception)

2. Aufbau (Establishment)

3. Reife (Maturity)

4. Teilung, Integration oder Auflösung (Mitosis, Adoption, Death)

 

In der ersten Phase, der Gründung, sind die Hauptaufgaben des Community Managers:

• Aufbau von Beziehungen mit potenziellen Mitgliedern, also solchen, die es zukünftig werden sollen

• Einladung potenzieller Mitglieder

• Erstaktivierung

• Moderation

• Prägen der Tonalität und des Umgangs in der Community • Rekrutierung einer Kerngruppe von Fürsprechern (Ambassadors) für die Community

 

Frau Young unterstreicht dabei, dass die Rekrutierung der ersten 50 Mitglieder ein wahrhaft schwieriges Unterfangen ist. Es kommt einem Vollzeitjob gleich und beansprucht deutlich mehr Ressourcen beansprucht, als sich die meisten Verantwortlichen in Organisationen vorstellen können. Die Rekrutierung erfolgt dabei oft aus dem professionellen Netzwerk der Community-Gründer, durch direkte, persönliche Einladungen, insbesondere auch in Offline-Kontexten, zum Beispiel auf Veranstaltungen. Üblich ist auch die Arbeit mit Freiwilligen, die gerade in der ersten Zeit dafür sorgen, dass jede Anfrage in der Community zeitnah beantwortet wird. Diese Freiwilligen werden im Verlauf der Zeit oft zu Kernmitgliedern der Community.

In der zweiten Phase, dem Aufbau, generieren Mitglieder zwischen 50 Prozent und 90 Prozent der Inhalte der Community. Kernaufgaben des Community Managers umfassen:

• Aufbau und Support der Kernmitglieder

• Aufbau der Aktivitäten in der Community mit Fokus auf der Entwicklung einer gemeinsamen Identität

• Bewerben und Vergrößern der Community

• Entwicklung und Erweiterung der Community Tools

 

Frau Young berichtet, dass in dieser Phase des Lebenszyklus insbesondere die aktive Einbindung bestehender Community-Mitglieder entscheidend ist, so dass deren Aktivitäten zum Beispiel im Community-Newsletter vorgestellt werden oder Kernmitglieder selbst Blog- oder Videobeiträge verfassen. Auch die Entwicklung eines Statussystems, welches die Beiträge eines Mitglieds zur Community sichtbar macht, fällt in diese Phase. Hinzu kommt der Ausbau der Community im Bereich Usability, Design und Experience. Nicht zuletzt ist ein Community Manager auch dafür verantwortlich, die Community durch Fachvorträge und -beiträge in relevanten Medien weiter bekannt zu machen. In der dritten Phase, der Reife, werden mehr als 90 Prozent der Aktivitäten und Inhalte von Community-Mitgliedern generiert. Jetzt könnte man annehmen, dass die Community sich in diesem Zustand selbst erhält. Das ist nur bedingt korrekt, weil sich die Aktivitäten des Community Managers nun inhaltlich anders ausrichten:

• Training der Kernmitglieder, damit diese zentrale Tätigkeiten des Community Managements übernehmen können (z.B. Moderation)

• Ausbau des Empfehlungsmanagement, d.h. auch Rekrutierung über Dritte

• Ausbau des gemeinsamen Community-Gedanken bzw. der Identität

• Evaluieren und Optimieren der internen Prozesse

• Analyse des Wertbeitrags der Community für verschiedene Stakeholder und Verbesserung desselben, wo möglich

 

Bei den Aufgaben, die Kernmitglieder übernehmen können, nennt Frau Young beispielweise:

• Moderation der wöchentlichen Online Chats

• Organisation von lokalen/regionalen Meet-ups

• Schreiben von Blogbeiträgen und Teilen persönlicher Erfahrungen

• Analyse und Reporting der Community-Aktivitäten

• Dokumentation von Gruppenarbeit

 

Durch das Ausscheiden von Mitgliedern oder die Verschiebung inhaltlicher Schwerpunkte kann es vorkommen, dass vormals aktive Mitglieder wieder zu inaktiven werden, und die Community zwischen der Aufbau- und der Reifephase zu pendeln beginnt. Der Aufbau einer gemeinsamen Identität ist zum Beispiel über das gemeinsame Erarbeiten einer Community Charter oder von Community Guidelines möglich. Auch hier spielt die Einbindung von Kernmitgliedern eine wichtige Rolle. Nicht zuletzt kann Feedback verschiedener Stakeholder über Interviews und Nutzerumfragen gesammelt werden. Solche Evaluationsinstrumente sind allerdings sparsam einzusetzen.

Diese Phase beginnt, wenn die Community-Aktivitäten nachlassen. Das kann passieren, weil die Community über die Zeit zu groß geworden ist und den gemeinsamen Nenner der frühen Mitglieder verwässert. In einer großen Gruppe haben einzelne Mitglieder darüber hinaus das Gefühl, dass sie mit ihren Aktivitäten keinen nennenswerten Beitrag mehr zur Community leisten. Eine Herausforderung ist es also, eine zu groß gewordene Community in kleine Sub-Communities zu teilen (Mitosis), in denen sich die einzelnen Mitglieder wieder wahrgenommen und in ihren Interessen repräsentiert fühlen. Das ist übrigens auch der Grund, weshalb Gruppen auf allen großen Plattformen eine wichtige Rolle spielen.

Als Beispiel nennt Frau Young eine Community, in der sich Frauen mit Brustkrebs zu ihrer Krankheit austauschen. Hier ist es möglicherweise sinnvoll, den Betroffenen mehrere Untergruppen für definierte Lebensphasen bereitzustellen, weil je nach Altersgruppe unterschiedliche Probleme und Fragestellungen zur Brustkrebserkrankung auftreten können. Die im Vergleich deutlich fokussierten Untergruppen beginnen mit ihrer Gründung wieder in der initialen Lebensphase einer Community.

Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass eine Community durch eine andere geschluckt wird. Frau Young nennt hier diverse Beispiele, bei denen die Fördermittel für die Community ausliefen oder die Prioritäten der Gründer sich so stark veränderten, dass eine Integration einer – mithin sehr erfolgreichen – Community in eine andere unausweichlich war. Natürlich ist so eine Community-Migration eine sensible Angelegenheit, die sorgfältig geplant werden möchte.

Zu guter Letzt besteht die Möglichkeit, dass die Community stagniert, keine neuen Mitglieder mehr anzieht und sich der Fokus des Austauschs der Mitglieder erschöpft. Gutes Community Management sollte hier vorsorgen, damit dieser Zustand nach Möglichkeit nicht eintritt. An ehesten lässt sich die Vitalität einer Community über gewisse Metriken erfassen, die regelmäßig abgefragt und dokumentiert werden. So wird offensichtlich, wenn eine Community „kippt“ und es können entsprechenden Maßnahmen ergriffen werden.

Status- und Erfolgsmessung: In welcher Phase befindet sich meine Community?

Messung: Anzahl der Erstbesucher

Kernfragen: Finden potenzielle Mitglieder die Community? Welche Möglichkeiten bestehen, potenzielle Mitglieder besser zu erreichen?

Messung: Anzahl der neuen Mitglieder (Registrierungen)

Kernfragen: Wie gut ist die Konversionsrate von Besucher zu Mitglied? Welche Barrieren zur Registrierung gibt es?

Messung: Anzahl der aktiven Mitglieder (z.B. Posting)

Kernfragen: Wo liegt die Konversionsrate von Mitglied zu aktivem Mitglied? Worin besteht die Motivation für Mitglieder aktiv zu werden? Was hindert sie daran, aktiv zu werden?

Messung: Anteil von neuen aktiven Mitgliedern

Kernfragen: Wie schnell werden neue Mitglieder aktiv?

Messung: Anteil der wiederkehrenden aktiven Nutzer

Kernfragen: Kommen bereits registrierte Mitglieder regelmäßig zurück in die Community? Warum oder warum nicht?

Messung: Anzahl der neuen Posts (bzw. erstellten Inhalte)

Kernfragen: Nehmen die Aktivitäten in der Community zu? Welche Art von Aktivität oder Inhalt ist die populärste?

Messung: Durchschnittliche Anzahl an Beiträgen durch aktive Mitglieder

Kernfragen: Wie hoch ist die Aktivität bestehender Mitglieder? Sollte der Fokus auf die Akquise neuer Mitglieder oder die Reaktivierung bestehender Mitglieder gesetzt werden?

Quelle: Young (2013), Übersetzung durch Autor

 

Interessanterweise sind diese Metriken nicht nur für medizinisch orientierte Communities relevant. In einem Forschungsprojekt mit Motor Talk, der größten europäischen Community im Automobilbereich, haben ich vor einigen Jahren mit Kollegen die Beurteilung des vitalen Zustands von online-Communities an sich, der sogenannten „Online Community Health“ untersucht. In der hier verlinkten Betrachtung sind wir zu ähnlichen Ergebnissen kamen.

Dabei ging es im Kern um den Versuch ein Modell zu entwickeln, mit dessen Hilfe der Gesundheitszustand einer Community gemessen werden kann. Kategorien, die bei Frau Young nicht auftauchen, die im Kontext von Motor Talk allerding eine wichtige Rollen spielen, sind: Interaktivität (Wie viele verschiedene Mitglieder beteiligen sich an einer Diskussion?), Atmosphäre (Wie gut ist die Stimmung in einer Community?), Antwortszeiten (Wie schnell wird auf Fragen in der Community geantwortet?) und Vertrauen (Inwieweit sind die Inhalte in der Community vertrauenswürdig?).

Tweet von Colleen Young

Im Dezember 2019 habe ich die größte internationale Konferenz im Bereich Wirtschaftsinformatik, die International Conference on Information Systems (ICIS), besucht, die dieses Jahr in München – und erstmalig in Deutschland - stattfand. Auch Frau Young war vor Ort. Sie arbeitet aktuell für die US-amerikanische Mayo Clinic und betreut deren Community Mayo Clinic Connect. Frau Young und einige Forscher erhielten für ihren Konferenzbeitrag „Tension Resolution and Sustaining Knowledge Flows in Online Communities“ einen Best Paper Award. Community Management ist also nach wie vor ein heiß diskutierter Forschungsbereich, in dem es noch viel zu entdecken gibt.

Autor: Prof. Dr. David Wagner

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